Mercedes-Benz Baureihen W 111/112 (1959 bis 1968)
Im August 1959 wird ein grundlegend überarbeitetes Pkw-Programm vorgestellt. Unter dem Motto „Die neuen Sechszylinder – Eine Klasse für sich“ erscheinen als Nachfolger der bisherigen Sechszylindertypen die drei vollkommen neu konstruierten Modelle 220 b, 220 Sb und 220 SEb der Baureihe W 111.
Abgesehen von Ausstattungsdetails unterscheiden sich die neuen Typen nur in der Motorisierung voneinander. Vom Typ 220 SEb gibt es von Februar 1961 an ein Coupé, und im September desselben Jahres folgt ein Cabriolet.
Allen drei Limousinen gemeinsam ist eine sehr geräumige, elegant gezeichnete Karosserie, deren hervorstechendstes Merkmal die Heckflossen darstellen – Konzession an den vor allem von amerikanischen Einflüssen beherrschten Zeitgeschmack. Dieses charakteristische Design-Element prägt später den Namen für die ganze Modellgeneration; die genannten Typen werden heute allgemein als „Heckflossen-Modelle“ bezeichnet.
Maßstäbe setzt die neue Modellreihe in punkto passiver Sicherheit; erstmals wird in einem Serienwagen das Barényi-Patent der gestaltfesten Fahrgastzelle mit Knautschzonen vorn und hinten umgesetzt. Sicherheit ist auch oberstes Gebot bei der Gestaltung des Innenraums; so erhalten die neuen Typen ein gepolstertes Armaturenbrett mit elastischen, zum Teil versenkt angeordneten Bedienungselementen und ein Lenkrad mit Polsterplatte; bemerkenswert sind ferner die in dieser Form erstmals verwendeten Keilzapfen-Türschlösser, denen für die Unfallsicherheit ebenfalls erhebliche Bedeutung zukommt.
Rein äußerlich unterscheidet sich der Typ 220 b in acht Punkten von seinen beiden Schwestermodellen: Die Typen 220 Sb und 220 SEb, von außen bis auf das Typenschild untereinander völlig identisch, haben je einen zusätzlichen Chromstreifen links und rechts der Kühlermaske, ein verchromtes Lufteinlassgitter vor der Windschutzscheibe sowie verchromte Radzierblenden. Besonders deutlich fallen die Unterschiede am Heck aus: Die beiden Modelle mit dem „S“ in der Typenbezeichnung haben einen Chromstreifen oberhalb der Heckscheibe, eine Zierleiste als Abschluss des Kofferraumdeckels, größere Rückleuchten mit integrierter Kennzeichenbeleuchtung sowie zusätzliche Stoßstangenecken zwischen Rückleuchten und hinterer Stoßstange. Außerdem sind die Heckflossen, offiziell als „Peilstege“ bezeichnet, nicht nur am hinteren Abschluss, sondern auch an der Oberkante mit Zierleisten versehen.
Bewährte Motoren
Die Motoren entsprechen im Großen und Ganzen den Vorgängermodellen, sind aber geringfügig modifiziert. Alle drei Aggregate haben einen geänderten Ventiltrieb und eine steilere Nockenwelle erhalten. Das Triebwerk des Typ 220 b ist nun mit zwei Vergasern bestückt und leistet 95 PS (70 kW), beim 220 Sb sind es 110 PS (81 kW). Der Einspritzmotor des 220 SEb hat gerade Ansaugrohre und entwickelt 120 PS (88 kW).
Fahrwerk und Bremsanlage stammen ebenfalls prinzipiell von den Vorgängertypen, die Radaufhängung ist aber in einigen Punkten deutlich überarbeitet. Vorn wird das mit den „Ponton“-Modellen eingeführte Konzept des Fahrschemels beibehalten; dieser hat allerdings seine Form geändert und ist nun als simpler Querträger ausgeführt, der nur noch an zwei Punkten elastisch mit dem Rahmenboden verbunden ist. Hinten wird die bewährte Eingelenk-Pendelachse mit einer Ausgleichfeder versehen, die oberhalb des Drehpunkts horizontal angeordnet ist und für eine gleichmäßige Verteilung der Achslast auf beide Antriebsräder sorgt. An Vorder- und Hinterrädern befinden sich die Stoßdämpfer jetzt ganz außen, eine Maßnahme, die nicht nur eine effektivere Schwingungsdämpfung, sondern auch eine bessere Zugänglichkeit ermöglicht.
Die Bremsanlage wird innerhalb der Produktionszeit zweimal modifiziert. Im April 1962 erhalten zunächst die Typen 220 Sb und 220 SEb Scheibenbremsen an den Vorderrädern. Der Typ 220 b zieht im August 1963 nach und wird gleichzeitig mit einem Bremskraftverstärker ausgerüstet, der zuvor nur gegen Aufpreis lieferbar ist. Im Rahmen dieser Änderung erhalten alle drei Modelle eine Zweikreisbremsanlage, die ein sicheres Abbremsen des Fahrzeugs auch bei Ausfall eines Bremskreises ermöglicht.
Kupplungsautomat „Hydrak“
Wie schon ihre Vorgängermodelle sind auch die drei Typen der Baureihe W 111 auf Wunsch mit dem hydraulischen Kupplungsautomaten „Hydrak“ lieferbar, allerdings nur bis Anfang 1962. Ein vollwertiges Automatikgetriebe eigener Produktion, das in jahrelanger Arbeit zur Serienreife entwickelt worden ist, steht ab April 1961 zunächst nur für den Typ 220 SEb zur Verfügung und kann ab August 1962 zum Mehrpreis von 1400 DM auch bei den Typen 220 b und 220 Sb bestellt werden. Im Gegensatz zur Borg-Warner-Automatik, die von 1956 an im Typ 300 c und von 1957 an im Nachfolgemodell Typ 300 d verwendet wird, kommt in der hauseigenen Neukonstruktion kein Drehmomentwandler, sondern eine hydraulische Kupplung zum Einsatz, die den Vorteil geringerer Leistungsverluste bietet. Das nachgeschaltete Viergang-Planetengetriebe besteht aus zwei Planetensätzen, drei Lamellenkupplungen und drei Bandbremsen.
Ein neues Top-Modell
Im August 1961 wird der Typ 300 SE als neues Modell der Oberklasse vorgestellt, das in seiner äußeren Erscheinung und seiner technischen Konzeption weitgehend dem Typ 220 SEb entspricht, im Gegensatz zu diesem jedoch serienmäßig zahlreiche technische Besonderheiten hat. Coupé und Cabriolet debütieren im Februar 1962. Neben dem Viergang-Automatikgetriebe und der ebenfalls neu entwickelten Servolenkung gehört zur Grundausstattung auch die erstmals bei einem Mercedes-Benz Pkw verwendete Luftfederung, die eine Kombination sportlicher Fahreigenschaften mit höchstem Federungskomfort gestattet. Ein weiteres Novum des intern W 112 genannten Typs stellen die Bremsen dar: Zum ersten Mal ist ein Mercedes-Benz Serien-Pkw mit einer Zweikreis-Bremsanlage sowie Scheibenbremsen an Vorder- und Hinterrädern ausgerüstet.
Der 3,0-Liter-Einspritzmotor basiert auf dem bewährten Aggregat des Typ 300 d, hat aber einen Leichtmetallblock mit eingepressten Laufbuchsen erhalten und ist dadurch um rund 40 Kilogramm leichter. Die Gemischaufbereitung erfolgt unverändert durch intermittierende Saugrohreinspritzung mittels Bosch Zweistempel-Einspritzpumpe. Im Januar 1964 wird die Verdichtung minimal erhöht und die Einspritzanlage auf eine Bosch Sechsstempel-Einspritzpumpe umgestellt. Die Motorleistung kann dadurch von 160 PS (118 kW) auf 170 PS (125 kW) gesteigert werden.
Die Karosserie des Typ 300 SE entspricht praktisch vollkommen der des Typ 220 SEb, bietet aber reichhaltigeren Chromzierrat. Hervorstechendstes Unterscheidungsmerkmal ist die von den Scheinwerfern bis zu den Heckleuchten durchgehende Chromleiste in der Längssicke; darüber hinaus besitzt der Typ 300 SE Zierleisten an den vorderen und hinteren Radläufen sowie einen breiten Chromstreifen unterhalb der Türen. Zusätzliche kleine „300 SE“-Schilder, die in die Zierblenden auf den C-Säulen integriert sind, fallen weniger stark ins Auge. Auf Wunsch kann der Typ 300 SE auch ohne die genannten Zierelemente geliefert werden.
Die Langversion kommt
Im März 1963 wird auf dem Genfer Automobil-Salon der Typ 300 SE lang vorgestellt, der bis auf seinen 100 Millimeter längeren Radstand mit dem Basismodell vom Typ 300 SE identisch ist. Der Raumgewinn kommt ausschließlich der Beinfreiheit im Fond und der Einstiegsbreite der hinteren Türen zugute. Auf Wunsch kann der Typ 300 SE lang mit Trennwand und elektrisch bedienbarer Zwischenscheibe geliefert werden.
Abgesehen von ihren unterschiedlichen Abmessungen lassen sich die Typen 300 SE und 300 SE lang an einem Ausstattungsdetail leicht unterscheiden: Die Langversion hat keine Zierblende auf der C-Säule, da die Zwangsentlüftung anders erfolgt und die Öffnungen dementsprechend fehlen. Beide Varianten, 300 SE und 300 SE lang, sind seit Erscheinen der verlängerten Ausführung auch mit Viergang-Schaltgetriebe lieferbar; der Verkaufspreis reduziert sich dadurch um 1400 DM.
Im Juli/August 1965 läuft die Produktion der 2,2-Liter- und 3,0-Liter-Typen mit „Heckflossen“-Karosserie aus. Als Nachfolger fungieren die Typen 250 S, 250 SE und 300 SE, die einer vollkommen neuen Modellgeneration angehören. Zur gleichen Zeit wird der Typ 220 b durch den Typ 230 S abgelöst.
Trotz der ungewohnten Typenbezeichnung ist das neue Modell im Grunde ein alter Bekannter: Der Typ 230 S entspricht weitestgehend dem Typ 220 Sb, hat aber einen überarbeiteten Motor. Durch Aufbohren des bewährten 2,2-Liter-Aggregats und eine Anhebung der Verdichtung kann die Leistung um 10 PS (7,4 kW) auf 120 PS (88 kW) gesteigert werden. Neu ist auch die hydropneumatische Ausgleichfeder an der Hinterachse, die die bisherige Schraubenfeder ersetzt und das Niveau des Aufbaus unabhängig von der Höhe der Zuladung konstant hält. Rein äußerlich sind die Typen 230 S und 220 Sb nicht voneinander zu unterscheiden, außer durch einen Blick auf die Typenbezeichnung am Kofferraumdeckel.
Obwohl der Typ 230 S von vornherein den Charakter eines Auslaufmodells hat, werden bis zur Produktionseinstellung im Januar 1968 immerhin 41 107 Stück gefertigt, davon 341 Fahrgestelle für Sonderaufbauten. Eine Sonderausführung des Typ 230 S soll nicht unerwähnt bleiben: ein Kombiwagen, der im belgischen Karosseriewerk IMA auf dem Fahrgestell des Typ 230 S produziert und ab August 1966 unter der Bezeichnung „Typ 230 S Universal“ über die Daimler-Benz Verkaufsorganisation vertrieben wird.
Zwischen 1959 und 1968 entstehen im Werk Sindelfingen insgesamt 344 751 Limousinen und Fahrgestelle der Baureihen W 111 und 112.
Die Baureihen W 111/112 in der Presse
Autocar, England, 6. November 1959, über den Mercedes-Benz 220 SE:
„Zusammengefasst, hat der 220 SE herausragende Straßeneigenschaften, unzweifelhaft ein Verdienst der langen Rennsporterfahrung des Unternehmens. Zusätzlich erlaubt er hohe und kontrollierte Reisegeschwindigkeiten bei sehr guter Treibstoffausnutzung. Das Interieur wurde dazu konstruiert, fünf Passagiere und ihr Gepäck über lange Strecken zu transportieren, auf eine Weise, die nur von wenigen anderen Autos erreicht wird, unabhängig von ihrem Herkunftsland.“ (“In summary the 220 SE has outstanding road manners, undoubtedly allied to the firm’s long experience in racing. In addition, it permits the achievement of high and sustained cruising speeds with very good economy. The interior is planned to carry five people and their luggage over long distances, in a manner matched by few other cars, irrespective of their country of origin.”)
Sports Cars, England, Dezember 1959, über die Mercedes-Benz 220 S und 220 SE:
„’Fabelhaft’ heißt zu Deutsch herausragend, das beschreibt den neuen Mercedes 220 recht gut. Er setzt einen neuen Industriestandard, ein Standard, den nur wenige Hersteller erreichen können.“ (“’Fabelhaft’ is the German word for faboulous and this about sums up the new 220 Mercedes. It sets a new standard for the industry, a standard that few manufacturers will be able to equal.”)
Auto, Motor und Sport, Deutschland, Heft 19/1963, über den Mercedes-Benz 300 SE:
„Im Programm von Daimler-Benz ist der 300 SE außerdem so eine Art Aushängeschild, in dem alles vereinigt wurde, was man an technischen Raffinessen zu bieten hat: Luftfederung, automatisches Getriebe, Servolenkung. […] Es gibt nicht viele Autos auf der Welt, mit denen man so bequem und so sicher reisen kann wie mit dem 300 SE.“
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