Der Urahn des Mercedes SLS AMG: Der Mercedes 300 SL von 1957

Im September 2009 bringt Mercedes den Mercedes SLS AMG mit einer Weltpremiere auf der IAA auf den markt. Ein Supersportwagen, der in Design und einigen Akzenten bewusst an den legendären Mercedes 300 SL erinnern soll. Anlass für Oldtimer24.com, einmal zurückzublicken auf den Großvater des modernen Supersportwagens, den 300 SL:

1957 tritt der Mercedes-Benz 300 SL mit seinen charakteristischen Flügeltüren in neuer Form auf: Das Unternehmen präsentiert in Genf auf dem Automobil-Salon vom 14. bis 24. März einen rasanten Roadster (Baureihe W 198 II). Damit reagiert Daimler-Benz auf die Nachfrage nach einem offenen Hochleistungssportwagen.

 Von links: Mercedes-Benz 300 SL Roadster, Baureihe W 198 II, 1957-1963 Mercedes-Benz 300 SL Coupé (Flügeltürer), Baureihe W 198 I, 1954-1957 (Foto: Daimler)
Von links: Mercedes-Benz 300 SL Roadster, Baureihe W 198 II, 1957-1963 Mercedes-Benz 300 SL Coupé (Flügeltürer), Baureihe W 198 I, 1954-1957 (Foto: Daimler)

Der Roadster löst das von 1954 bis 1957 gebaute 300 SL Coupé ab. Gegenüber diesem trägt der Roadster eine leicht veränderte Front mit hochkant stehenden Scheinwerfergläsern. Auch das Fahrwerk ist verbessert. Der entscheidende konstruktive Unterschied liegt aber in der Modifikation des Coupé-Gitterrohrrahmens. Nur dadurch ist es möglich, dem Roadster einen bequemen, tiefen Einstieg zu geben und ihn mit vorn angeschlagenen Türen auszustatten. Auch ermöglicht diese Änderung das leicht zu öffnende Textilverdeck.

Ein Auto für Nordamerika

Die Anregung, den Flügeltürer durch einen Roadster abzulösen, kommt von Maximilian „Maxie“ Hoffman. Der gebürtige Österreicher ist seit 1952 Importeur von Mercedes-Benz in den Vereinigten Staaten von Amerika. Seiner Initiative ist bereits die Entwicklung des Rennsportwagens 300 SL (W 194) zum serienmäßigen Coupé zu verdanken. Rudolf Uhlenhaut greift dafür auf Rohrrahmen und Technik eines Rennsport-Prototypen aus dem Jahr 1953 zurück, der aber nicht zum Einsatz kommt.

Karl Wilfert und Friedrich Geiger entwickeln die Karosserie des Rennsport-Prototypen zum Serienmodell weiter. Der Reihensechszylindermotor M 198, von dem der Rennsportwagen angetrieben wird, ist Grundlage des Dreiliter-Reihensechszylinders im Serien-SL. Es ist der erste Serien-Viertaktmotor überhaupt mit Benzindirekteinspritzung. Gegenüber dem Saugmotor mit drei Fallstromvergasern im W 194 (175 PS/129 kW) bringt die Einspritzung eine Leistungssteigerung auf 215 PS (158 kW).

Hoffman überzeugt die Stuttgarter Entwicklungsabteilung schon kurz zuvor, aus dem Mercedes-Benz 180 den Roadster 190 SL (W 121) abzuleiten, der 1955 debütiert. 1957 will der Importeur den Erfolg dieses eleganten offenen Reisewagens auf dem nordamerikanischen Markt auch auf den größeren und stärkeren 300 SL übertragen. Er drängt in Stuttgart darauf, dass Mercedes-Benz den Flügeltürer zum Roadster weiterentwickelt.

Neuinterpretation der Geschichte

Der Mercedes-Benz 300 SL ist ein atemberaubender Sportwagen, mit dem Daimler-Benz 1954 an Traditionen wie jene der legendären Modellfamilie der Typen S bis SSKL anknüpft. Dieses Fahrzeug als klassischen Roadster auf die Straße zu bringen, scheint im Licht der Markengeschichte nur logisch. Dazu kommt der elegante Auftritt eines offenen Sportwagens, die faszinierende Verbindung aus rasanten Linien und hoher Dynamik.

Der Erfolg des Roadsters, von dem in der Zeit von 1957 bis 1963 1858 Stück gebaut wurden, bestätigt Maxie Hoffman und die Mercedes-Benz Entwickler in ihrer Entscheidung: Der Mercedes-Benz 300 SL Roadster interpretiert die Markengeschichte auf der Grundlage der jüngsten Erfolge im Motorsport erfolgreich neu. Gleichzeitig etabliert sich das Konzept des leistungsstarken und eleganten offenen Sportwagens als Leitmotiv der SL-Klasse.

Abschied von „Gullwing“ und „Papillon“

Viele Liebhaber des Coupés vermissen allerdings 1957 diesen außergewöhnlichen Sportwagen mit seinen charakteristischen Flügeltüren. Die große Faszination des Wagens drückt sich schon in den liebevollen Bezeichnungen aus: „Gullwing“ („Möwenflügler“) tauft das nordamerikanische Publikum den Sportwagen bei seiner Premiere 1954 auf der International Motor Sports Show in New York. Und die französischen Fans nennen das schnittige Coupé ebenfalls nach seinen Flügeltüren „Papillon“ („Schmetterling“).

Dabei ist diese besondere Lösung des Einstiegs kein Einfall der Designer, um den Sportwagen schon im Stand aus dem Feld seiner Konkurrenten herauszuheben. Vielmehr folgen die am Dach angeschlagenen und nach oben öffnenden Türen den Zwängen der Konstruktion. Denn der äußerst stabile und zugleich leichte Gitterrohrrahmen, der 1952 für die Rennsportversion des 300 SL von Rudolf Uhlenhaut entworfen wurde, lässt keinen Platz für herkömmliche Türen. Die ersten Versionen des Rennsportwagens weisen sogar eine so hohe Oberkante der Querstreben auf, dass die Flügeltüren schon an der Unterkante der Seitenfenster enden. Für das Langstreckenrennen von Le Mans im Juni 1952 setzt Uhlenhaut die Einstiege erstmals etwas tiefer. Dieser Form folgen auch der Rennsport-Prototyp aus dem Jahr 1953 und schließlich der W 198 I, der 1954 als Seriensportwagen gebaut wird.

Erster Roadster für Rennsporteinsatz

Dass der 300 SL auch ohne Dach und Flügeltüren denkbar ist, hat Uhlenhaut schon 1952 gezeigt: Für den Großen Jubiläumspreis auf dem Nürburgring entstehen vier Roadster auf Basis des W 194. Sie sind 100 Kilogramm leichter als das Coupé, haben allerdings den gleichen Gitterrohrrahmen. Statt klassischer Türen erhalten die offenen Wagen daher reduzierte Türen, die in Richtung Motorhaube nach oben geklappt werden. Beim Rennen auf dem Nürburgring, das im Rahmenprogramm des Großen Preises von Deutschland am 3. August 1952 stattfindet, fährt die Mercedes-Benz Rennabteilung einen Vierfachsieg nach Hause: Hermann Lang gewinnt vor Karl Kling, Fritz Rieß und Theo Helfrich.

 Die Rennmannschaft der Carrera Panamericana Mexico 1952 (von links): Hermann Lang, Erwin Grupp, Hans Klenk und Karl Klink am Mercedes-Benz 300 SL Coupé (W 194) und John Fitch und Eugen Geiger am 300 SL Roadster (W 194). (Foto: Daimler)
Die Rennmannschaft der Carrera Panamericana Mexico 1952 (von links): Hermann Lang, Erwin Grupp, Hans Klenk und Karl Klink am Mercedes-Benz 300 SL Coupé (W 194) und John Fitch und Eugen Geiger am 300 SL Roadster (W 194). (Foto: Daimler)

Auch bei der Carrera Panamericana setzt Mercedes-Benz zwei der offenen Rennsportwagen ein. Allerdings starten nur John Cooper Fitch und Eugen Geiger mit einem 300 SL Rennsport-Roadster im Wettbewerb. Den zweiten Wagen pilotiert der Journalist Günther Molter als Begleitfahrzeug. Die beiden Coupés mit Karl Kling/Hans Klenk und Hermann Lang/Erwin Grupp gewinnen das Rennen. Fitch dagegen wird wegen Regelverstoßes disqualifiziert, als er kurz nach dem Beginn einer Etappe noch einmal zum Start zurückfährt, um eine letzte Einstellung an seinem Wagen vornehmen zu lassen.

Modifizierter Rahmen für den Serien-Roadster

Für den Renneinsatz sind die Stummeltüren praktikabel. Doch der W 198 II soll übliche, vorn angeschlagene Türen erhalten. So verändern die Ingenieure den Gitterrohrrahmen deutlich und schaffen tiefere Einstiege auf beiden Seiten. Damit die Stabilität der Konstruktion erhalten bleibt, müssen zusätzliche Rohre eingebaut werden. Dadurch steigt das Gewicht des Roadsters gegenüber dem Coupé um 35 Kilogramm auf 1330 Kilogramm.

 In aller Offenheit: Von 1957 an wird der Mercedes-Benz 300 SL Roadster gebaut. (Foto: Daimler)
In aller Offenheit: Von 1957 an wird der Mercedes-Benz 300 SL Roadster gebaut. (Foto: Daimler)

Zusammen mit dem neuen Hardtop, das Mercedes-Benz 1958 vorstellt, wiegt der 300 SL Roadster sogar 75 Kilogramm mehr als das Coupé. Die Spitzengeschwindigkeit sinkt deshalb entsprechend von 260 km/h auf 250 km/h. Prompt werfen Coupé-Enthusiasten dem Roadster seine weichere Charakteristik gegenüber dem Flügeltürer vor, nennen ihn gar ein „rollendes Wohnzimmer“. Doch der offene 300 SL ist ohne Frage ein herausragender Supersportwagen seiner Epoche. Dass der Einstieg nun bequemer ist, das klappbare Lenkrad wegfallen kann und die Kurbelfenster bei aufgesetztem Hardtop für Frischluft sorgen, erleichtert den alltäglichen Betrieb des 300 SL Roadster.

Technische Verbesserungen

Ein deutlich besseres Fahrverhalten beschert dem 300 SL Roadster der Einbau einer Eingelenk-Pendelachse mit tiefgelegtem Drehpunkt als Hinterrad-Aufhängung. Denn mit seiner Zweigelenk-Pendelachse fordert das Coupé insbesondere bei hohen Geschwindigkeiten einen Könner am Volant. Die im Roadster mit einer Ausgleichfeder versehene Eingelenk-Achse setzt Mercedes-Benz bereits im Typ 220 a (W 180) ein.

Damit die Verzögerung des Autos zu den Fahrleistungen passt (er beschleunigt in zehn Sekunden von 0 auf 100 km/h), stattet Mercedes-Benz den 300 SL Roadster im März 1961 mit Dunlop-Scheibenbremsen an Vorder- und Hinterrädern aus. 1962 schließlich erhält der Sportwagen einen modifizierten Motor mit Leichtmetall-Block (Motor M 198 III).

Offen oder geschlossen

Der 300 SL Roadster trägt ein anderes Gesicht als das Coupé: Hochkant gestellte Abdeckgläser für Scheinwerfer und Blinker heben die Maske des offenen Sportwagens von der Front des Coupés ab, die von runden Scheinwerfergläsern dominiert wird.

Zum Schutz vor den Unbilden der Witterung stattet Mercedes-Benz den Roadster zunächst serienmäßig mit einem Verdeck aus, das unter einer Abdeckung hinter den Sitzen verstaut wird. Als Alternative gibt es von 1958 an ein Hardtop, das dem Roadster den Auftritt eines Coupés verleiht.

Die elegante Silhouette entspricht jener des Flügeltürers. Allerdings trägt der fest bedachte Roadster eine viel deutlichere Gürtellinie, insbesondere bei unterschiedlicher Lackierung von Karosserie und Dach. Das 1500 Mark teure Hardtop entwickelt sich zur am stärksten nachgefragten Sonderausstattung des 300 SL. Deshalb ist der Roadster nun wahlweise ohne Klappverdeck lieferbar. 1958 kostet der Sportwagen mit Verdeck 34 000 Mark, ohne klappbare Stoffhaube verlangt Mercedes-Benz 33 250 Mark – so viel wie für den Roadster samt Verdeck bei der Vorstellung 1957.

Zurück in den Motorsport

Der 300 SL kommt aus dem Motorsport. Auch seine Serienversion wird erfolgreich bei Rallyes und Langstreckenfahrten eingesetzt. Die Zeit auf den Rennpisten ist allerdings für den 300 SL weitgehend vorbei, als Mercedes-Benz 1954 den neuen Formel-1-Rennwagen W 196 präsentiert und davon 1955 den Rennsportwagen 300 SLR (W 196 S) ableitet.
Dennoch entsteht für die amerikanische Sportwagenmeisterschaft ein modifizierter Tourensportwagen auf der Basis des 300 SL Roadster. Dieser Mercedes-Benz 300 SLS wird in zwei Exemplaren gebaut. Paul O’Shea gewinnt damit 1957 die amerikanische Sportwagenmeisterschaft in der Kategorie D mit deutlichem Vorsprung vor der Konkurrenz. In den beiden Jahren davor hat der amerikanische Privatfahrer bereits mit seinem Mercedes-Benz 300 SL Coupé diesen Titel geholt.

Das Ende einer Epoche

Im Februar 1963 wird der letzte 300 SL in Sindelfingen gebaut. Damit endet bei Daimler-Benz die Ära des ersten SL-Modells. Zugleich geht eine Epoche des Automobilbaus zu Ende. Denn der 300 SL Roadster ist der letzte Personenwagen von Mercedes-Benz, der einen separaten Rahmen besitzt. Von 1954 bis 1957 entstehen 1371 Coupés, 29 Coupés mit Leichtmetall-Aufbau und ein Coupé mit Kunststoff-Karosserie. In den Jahren von 1957 bis 1963 folgen 1858 Roadster.

Der offene Mercedes-Benz 300 SL wird in den sechs Jahren seiner Bauzeit wie zuvor bereits das Coupé zu einer automobilen Ikone. Schauspieler und Prominente fahren den Sportwagen, und er begeistert als Darsteller auf vier Rädern in Filmen von „Bettgeflüster“ bis „Charlie’s Angels“. Heute gehört der Mercedes-Benz 300 SL Roadster zu den gesuchtesten Klassikern der Marke mit dem Stern.

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